Fotografie Frank Grellert


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Big Beautiful Building, Betonwahn oder Beitrag zur Emanzipation?

Anlässlich der Premiere von Christoph Marthalers neuem Stück „NACH DEN LETZTEN TAGEN. EIN SPÄTABEND“ im Audimax der RUB war ich auf Dystopie eingestellt. Da ich (kurz) an der RUB studiert habe, dann aber wegen der Betonfülle und der erdrückenden Anonymität lieber den Studienort wechselte, nahm ich den Besuch zum Anlass herauszufinden, wie es sich heute auf dem Campus anfühlt.

Die Architektur wurde als „ Big Beautiful Building“ ausgezeichnet. Ist das etwa der in Beton geformte schöne Geist der Bildung? Der Ort der Reflexion und des interdisziplinären Austauschs? Christoph Marthaler zog es ausgerechnet hierher, um seine Vision der letzten Tage zu inszenieren. Mich trieb es damals nur weg von hier. Ich erinnere mich meiner eigenen Eindrücke sehr genau, die mich zur Flucht aus Bochum veranlasst hatten. Kurz: Meine Gefühle haben sich nicht geändert, ich bin damit also ein schlechter Zeuge der Anfänge der RUB, wahrscheinlicher auch Gefangener kleinbürgerlicher Harmoniesucht.

Daher befrage ich zwei Studenten nach ihrem Befinden. Ich störe sie gerade dabei, Pläne zu schmieden: Wie soll es weitergehen? An der RUB? In Berlin? Gar den USA (als Truckfahrer)? Nach 23 Jahren sei Bochum genug. Das Gefühl kenne ich: Viele Studenten der RUB kommen aus dem Ruhrgebiet, reisen morgens an und abends ab. Wenig Gelegenheit, sich kennenzulernen. Aber das Verhältnis zu den Dozenten sei sehr gut. Man fühle sich angenommen und gut betreut. Der eine ist Kind von Immigranten aus dem Kosovo, in Bochum geboren und zur Schule gegangen. Die RUB ist tatsächlich auch ein Kind des Projekts, Arbeiterkindern eine akademische Bildung zu verschaffen — eine Herausforderung, die man an vielen anderen Universitäten (Berlin, Heidelberg, Marburg usw.) in diesem Ausmaß wahrscheinlich gar nicht so verspürt, weil die Gesellschaft in diesen Städten entweder nicht so homogen ist oder gerade im Gegenteil sehr homogen mittelständisch und kleinbürgerlich. Insofern leistet die RUB einen großen Beitrag zur Integration, damit auch zur Stabilisierung des Friedens in Europa. Was beunruhigt Euch zur Zeit am meisten? Leute wie Trump und Erdogan. Die Architektur? Na ja, erschreckend halt und viel Beton. Aber bishierhin dennoch eine glückliche Erfahrung im Vergleich zu der der Eltern im Kosovo, die sie zur Flucht veranlasst haben. Eine Erfüllung ihres Wunsches, unseren Kindern soll es besser gehen als uns. Auch das kenne ich gut — eine Dystopie mit glücklichem Ausgang. Wen sehe ich da vor mir? Zwei glückliche Studenten, die in ihrem Gefühl schwelgen, die ganze Welte stehe ihnen nun offen. Sie haben auch Fragen an mich, u.a.: „Welche Länder hast Du gesehen?“ „Was hast Du gearbeitet?“ „Was ist das Leben?“„Das, was man daraus macht!“ und schön ist es, sich diese Fragen in einer Situation mit einer etwas größeren Wahlfreiheit als im Kosovo oder in Damaskus oder Idlib stellen zu können! Dystopie? Wahrscheinlich ein Ausdruck eines beschränkten Weltbildes.

Videobotschaft: Christoph Marthaler über "Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend" from Ruhrtriennale on Vimeo.

 

 

 


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  • August 2019  
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  •   13.08.2023  
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