Fotografie Frank Grellert


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Kein Strand, kein Meer, kein Nebel Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn' Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.
Theodor Storm

Mit diesem Gedicht wollte ein Deutschlehrer wohl Heimatliebe vermitteln, indem er uns an einem grauen Novembermorgen, der sprühregenverregnet war, mit diesem Gedicht erfreute. Die Begeisterung hielt sich verständlicherweise in engen Grenzen. Selbst dem einen Mitschüler, der immer in der ersten Reihe saß und den Lehrkörper ergebenst anatmete, während er den Arm senkrecht und rechtwinklig hob und sich bemühte, mit dem Zeigefinger die Decke zu berühren,selbst dem fiel es an diesem Morgen nicht leicht, die Gedanken des Lehrers zu erraten.

Sehr viele Jahre später wundere ich mich noch immer, der Lehrer dürfte längst verstorben sein, der Sprühregen ist allerdings noch da. Man erkennt unbeholfene Bemühungen, Farbe in die Stadt zu bringen. Und das tut ein jeder auf seine Weise: Die Stadt lässt alles bunt anstreichen, dann startet sie Mammutprojekte der Stadterneuerung. Das Mercator-Quartier schafft in bester Innenstadt-Lage Wohnraum auf gehobenen Niveau. Visionär lassen die Planer verlautbaren „Ich sehe, was Du (noch) nicht siehst!“. Da ist er wieder der alte Obrigkeitsstaat, der festlegt, was schön und richtig ist. Dafür müssen Schulen weichen (siehe S/W-Bilder). Eine Stiftung „Kunst und Gesellschaft“ und ein überdimensionales Party-Zelt sollen für Akzeptanz sorgen. Kunst und Marketing wirbeln hier munter durcheinander. Die Sprayer fügen ihre Ornamente hinzu, die MSV-Fans und die der Schützenvereine erscheinen stolz in einheitlicher Kleidung. Da gibt es die Bemühungen, sich gegen Ungläubige (gâvurler) abzugrenzen und zu demonstrieren, dass Türkei überall ist, auch wenn man im Schweinefresserland lebt: Zaun, Schüssel, Fahne, fertig! Weg da! Aber da sind auch die türkischen Jugendlichen, die es sichtlich genießen, hier zu sein und mit dem Sosein ihrer Altvorderen ironisch spielen: „Dein gottlos süßer Blick!“ heißt es schwärmerisch vor der Rhein-Kulisse, die Freiheiten wohl genießend, die im Land der Eltern nicht gewährt werden. Auch von Älteren hört man hinter vorgehaltener Hand, dass die Türkei ein wunderschönes Land ist - für den Urlaub alle paar Jahre, aber gerne möchte man auch mal etwas anderes sehen. Die Familie, weißt Du? Aber zu Hause sind wir hier! Das ist zwar alles überhaupt nicht schön, zeigt aber, dass da Spannung und Bewegung herrscht, kleinbürgerlich satturierte Stillstand sieht anders aus.

Das ist ein Ort, an dem das Schöne im hergebrachten Sinne nicht mehr existiert, denn es setzt einen Konsens voraus, der hier noch nie existierte in der Arbeiterstadt, die von Anfang an durch fundamentale Klassengegensätzen geprägt ist. Die Klassengegensätze sind geblieben, auch wenn die Industrie verschwindet, Armut steigt, und damit Sehnsüchte nach der heilen Welt und dem reinen Glauben. Ein Konsens zwischen den vielen Ethnien in der Stadt scheint vorerst nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu funktionieren: Dem Rückzug ins Private. Ich will davon nichts wissen, das rührt mich nicht an! Doch! Schönheit? Ästhetik? Heimatliebe? „Der Jugend Zauber für und für“? Defragmentierung! Umbruch! Suche! Verunsicherung!

Das ist die neue Ästhetik, die sich auf der Suche befindet und dabei Hässlichkeiten ausspeit, weil sie sie loswerden muss, um erfolgreich zu sein.

 

 

 


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  • Dezember 2013 bis März 2017  
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  •   13.08.2023  
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